BVerfG: ärztliche Zwangsmaßnahmen gem. § 1832 BGB verfassungswidrig

BVerfG, Urteil vom 26.11.2024 – 1 BvL 1/24

Gegenstand der Entscheidung

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte sich mit der Frage zu befassen, ob § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB (vormals: § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F.) mit dem Grundgesetz, insbesondere mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG vereinbar ist. Die Norm verlangt, dass eine ärztliche Zwangsmaßnahme bei betreuten Personen zwingend im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchgeführt werden muss. Damit soll sichergestellt werden, dass die medizinische Versorgung einschließlich der Nachbehandlung auf höchstem Niveau erfolgt. Der Bundesgerichtshof (BGH) legte das Gesetz im Wege der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 GG dem BVerfG vor.

Sachverhalt

Im konkreten Fall litt eine Frau, die stationär in einer Pflegeeinrichtung untergebracht war, an einer schweren paranoiden Schizophrenie. Eine medizinisch indizierte Behandlung konnte nicht mit ihrem natürlichen Willen in Einklang gebracht werden, sodass eine Zwangsbehandlung notwendig wurde. Aufgrund der zwingenden gesetzlichen Vorgabe, dass solche Maßnahmen ausschließlich im Krankenhaus stattfinden dürfen, musste die Patientin regelmäßig unter Fixierung mit einem Rettungswagen dorthin verbracht werden. Dies führte wiederholt zu gravierenden psychischen Belastungen und Retraumatisierungen. Fachlich wäre es aus Sicht der behandelnden Ärzte deutlich schonender und medizinisch ebenso wirksam gewesen, die Behandlung vor Ort in der Pflegeeinrichtung durchzuführen.

Kernfrage

Die rechtliche Kernfrage lautete: Ist die Regelung des § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG vereinbar, wenn sie keinerlei Ausnahme zulässt und dadurch unter Umständen kontraproduktive Folgen für die betroffene Person zeitigt?

Die Entscheidung des BVerfG

Das BVerfG entschied: § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB verstößt gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG. Der Gesetzgeber habe es versäumt, eine Ausnahmemöglichkeit für Härtefälle vorzusehen. Insbesondere müsse in besonders gelagerten Konstellationen eine Zwangsbehandlung auch außerhalb eines Krankenhauses möglich sein – etwa in der gewohnten Umgebung einer Pflegeeinrichtung, sofern dies dem Wohl des Betroffenen besser entspricht.

Sondervotum

Richter Wolff verneinte die Verfassungswidrigkeit. Seiner Ansicht nach bestehe aus der Abwehrfunktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gerade kein Anspruch auf positive gesetzgeberische Maßnahmen, sondern lediglich auf das Unterlassen eines unverhältnismäßigen Eingriffs. Das Gesetz könne durch restriktive Anwendung verfassungskonform ausgelegt werden – im Zweifel müsse eben ganz auf eine Zwangsmaßnahme verzichtet werden, falls der Transport nicht zumutbar sei.

Aufbau einer konkreten Normenkontrolle (Art. 100 GG)

Zulässigkeit
  1. Zuständigkeit: Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG – gegeben.
  2. Vorlageberechtigung: Nur Gerichte – der BGH ist vorlageberechtigt.
  3. Vorlagegegenstand: Nur nachkonstitutionelle, formelle Gesetze – § 1832 BGB ist solch ein Gesetz.
  4. Antragsgrund: Das vorlegende Gericht muss das Gesetz für verfassungswidrig halten – BGH bejaht dies.
  5. Entscheidungserheblichkeit: Ohne Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit kann der konkrete Fall nicht entschieden werden.
  6. Form: Begründungspflicht gem. § 80 Abs. 2 BVerfGG – eingehalten.
Begründetheit
  1. Formelle Verfassungsmäßigkeit
  1. Materielle Verfassungsmäßigkeit

a) Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG eröffnet

Der Schutzbereich ist betroffen, da die Norm die körperliche Unversehrtheit und das Selbstbestimmungsrecht berührt. Bei entscheidungsunfähigen Personen entsteht zudem eine staatliche Schutzpflicht, die gesetzlich konkretisiert werden muss.

b) Eingriff

Die Verpflichtung zur stationären Behandlung stellt einen Grundrechtseingriff dar – unproblematisch unter dem klassischen Eingriffsbegriff.

c) Rechtfertigung des Eingriffs

  • Gesetzesvorbehalt: § 1832 BGB ist eine gesetzliche Grundlage – gegeben.
  • Verhältnismäßigkeit
  • Legitimer Zweck: Schutz der betroffenen Person durch umfassende medizinische Versorgung.
  • Geeignetheit und Erforderlichkeit: Grundsätzlich gegeben.
  • Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Angemessenheit): Nicht gegeben, da der starre Krankenhausvorbehalt in Härtefällen zu einer unverhältnismäßigen Belastung führt. Der Gesetzgeber differenziert nicht nach Konstellationen, bei denen eine ambulante Maßnahme schonender und medizinisch gleichwertig wäre.

Ergebnis: § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB ist verfassungswidrig.

Examensrelevanz und vertiefende Hinweise

Diese Entscheidung ist von erheblicher Examensrelevanz, da sie mehrere klassische Prüfungskomplexe kombiniert:

Zudem eignet sich der Fall hervorragend für Argumentationsübungen im Gutachtenstil – sowohl pro als auch contra Verfassungswidrigkeit, da ein vertretbares Sondervotum existiert.

Fazit

Das Urteil des BVerfG mahnt den Gesetzgeber zur Differenzierung statt Pauschalierung. Im Zentrum steht die Frage, wie viel Flexibilität das Rechtssystem zulassen muss, um individuelle Härten zu vermeiden, ohne dabei das Schutzniveau aufzugeben. Der Gesetzgeber ist nun verpflichtet, eine Härtefallregelung in § 1832 BGB zu integrieren, die eine ambulante Zwangsbehandlung in eng begrenzten Fällen zulässt.

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Fundstelle: BVerfG, Urteil vom 26.11.2024 – 1 BvL 1/24 = NJW 2025, 144

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