Strafrecht basics: Die Erforderlichkeit bei der Notwehr (§ 32 StGB)

Die Notwehr nach § 32 StGB ist der wichtigste Rechtfertigungsgrund im Strafrecht

Die Notwehr ist ohne Frage der klausur- und examensträchtigste Rechtfertigungsgrund im Strafrecht. Das gilt sowohl für das 1. als auch für das 2. juristische Staatsexamen.

1. Notwehrlage

In einem vergangenen Artikel haben wir uns schon die Notwehrlage näher angesehen.

2. Notwehrhandlung: Erforderlichkeit & Gebotenheit

Im heutigen Artikel soll es daher um die Notwehrhandlung gehen. Die Notwehrhandlung müsste objektiv erforderlich und normativ geboten sein. Zu der normativen Gebotenheit (Einschränkung des Notwehrrechts) und ihren Problemen kommen wir noch in einem späteren Blogartikel.

3. Subjektives Rechtfertigungselement

Auch das subjektive Rechtfertigungselement mitsamt den relevanten Streitständen haben wir bereits in einem anderen Blogartikel ausführlich besprochen.

Notwehrhandlung gegenüber Rechtsgütern des Angreifers

Zunächst ein paar einleitende Worte zur Notwehrhandlung an sich:

Da sich die Notwehrhandlung des § 32 StGB gegen den Angreifer und dessen Rechtsgüter richten muss, ist das einschneidende Notwehrrecht nicht einschlägig, wenn durch das Abwehrverhalten des Angegriffenen nicht dem Angreifer gehörende Sachen beschädigt oder zerstört werden.

Beispiel: Der Angreifer hat sich eine Jacke von einem Freund geliehen. Der Angegriffene beschäftigt diese Jacke bei der Abwehr des Angriffs.

Vielmehr finden in diesen Fällen die zivilrechtlichen Notstandsregelungen gem. §§ 228, 904 BGB Anwendung (vgl. Fischer, § 32 StGB Rn. 3, 24), die im Falle ihrer Einschlägigkeit spezieller als der rechtfertigende Notstand gem. § 34 StGB sind (Schönke / Schröder – Sternberg-Lieben, Vorb. §§ 32 ff. StGB Rn. 70).

Dies gilt natürlich auch in den Fällen der Nothilfe.

Kraatz Tipp: Vergleichbar der klausurtaktischen Behandlung des Verhältnisses von Notwehr und rechtfertigendem Notstand (wird eine Rechtfertigung über den vorrangig zu prüfenden § 32 StGB angenommen, bedarf es keiner anschließenden Erörterung des § 34 StGB mehr), sind die zivilrechtlichen Notstandsregelungen der §§ 228, 904 BGB vor § 34 BGB zu prüfen.

Sind die Voraussetzungen des Defensivnotsands oder des Aggressivnotstands erfüllt, so ist eine anschließende Prüfung von § 34 StGB nicht mehr erforderlich.

Objektive Erforderlichkeit der Notwehrhandlung

Rechtliche Definition der Erforderlichkeit

Die Notwehrhandlung ist erforderlich, wenn sie zur Abwehr des Angriffs geeignet ist und der Täter bei dem Vorliegen mehrerer gleich wirksamer Abwehrmittel das mildeste Mittel auswählt (vgl. BGH, Beschluss vom 22.06.2016 – 5 StR 138/16).

Die objektive Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung ist aus der Sicht eines objektiven Dritten zu dem Zeitpunkt der Tatbegehung gem. § 8 StGB (ex-ante-Sicht) zu bestimmen (vgl. BGH, Beschluss vom 25.10.2022 – 5 StR 276/22).

Der Angegriffene darf den Angriff sicher abwehren

Eine „schimpfliche“ Flucht oder ein Ausweichen ist dem Angegriffenen in diesem Zusammenhang jedoch nicht zumutbar. So liegt dem Notwehrrecht das Rechtsbewährungsprinzip zugrunde, wonach „das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht“. 
Auch ist ein Verweis auf ein milderes Abwehrmittel unzulässig, wenn die gleiche Wirksamkeit eines milderen Abwehrmittels nicht mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit feststeht, also unsicher ist (Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 10 Rn. 514).

Nach den vorstehenden Ausführungen kann prinzipiell auch die Tötung des Angreifers durch § 32 StGB gerechtfertigt sein, da bei dem einschneidenden Rechtfertigungsgrund der Notwehr, im Gegensatz z.B. zum rechtfertigenden Notstand gem. § 34 StGB, keine Abwägung zwischen dem geschützten und dem beeinträchtigten Interesse erfolgt, die Rechtfertigungshandlung also nicht verhältnismäßig sein muss (vgl. Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 10 Rn. 521).

Tötung des Angreifers ist ultima ratio

Dennoch hat die Zufügung einer tödlichen Verletzung stets „ultima ratio“ (die letzte Möglichkeit) zu bleiben.

In diesem Sinne hat der betreffende Einsatz von Verteidigungsmitteln bei Möglichkeit erst angedroht zu werden.

Wenn dies nicht ausreicht, muss der Versuch unternommen werden, weniger sensible Körperteile zu treffen.

Erst als letzte Möglichkeit darf ein gezielter tödlicher Schuss oder Stich abgegeben werden (vgl. BGH, Urteil vom 01.07.2014 − 5 StR 134/14; Stemler, ZJS 2010, 347).

Abschließender Beispielsfall: Rauchende Fäuste

Sachverhalt

Der Gast G 1 weist den ihm körperlich überlegenen rauchenden Gast G 2 in einer Diskothek darauf hin, dass dort das Rauchen verboten sei. Daraufhin bläst der aggressiv reagierende G 2 dem G 1 demonstrativ Rauch ins Gesicht und provoziert ihn mit den Worten: „Und was nun?“.

Als G 2 erneut zum Anrauchen ansetzen möchte, wirft G 1 ihm zur Verteidigung ein Glas an den Kopf und fügt ihm eine Platzwunde zu.

Strafbarkeit des G1 gem. §§ 223 ff. StGB?

Lösung

Vorliegend ist G 1 bzgl. der gefährlichen Körperverletzung an G 2 gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 2 StGB aufgrund der Notwehr gem. § 32 StGB gerechtfertigt.

  1. Notwehrlage

Durch das Anrauchen hat G 2 eine Körperverletzung gem. § 223 I StGB begangen. So werden durch Zigarettenrauch grds. die Schleimhäute des Angerauchten gereizt. Darüber hinaus kann Zigarettenrauch neben krebserregenden Stoffen und Spuckpartikeln auch Viren und Bakterien enthalten. 

Hinweis: Eine gefährliche Körperverletzung gem. § 224 I Nr. 1 StGB durch das Beibringen von Gift oder anderen gesundheitsschädlichen Stoffen scheidet hingegen aus. Zwar handelt es sich bei dem Zigarettenrauch um einen körperlichen Stoff in Gestalt von Partikeln in der Luft mit gesundheitsschädlicher Wirkung, doch ist dieser Stoff mangels anderslautender Sachverhaltsangaben in dem vorliegenden Fall nicht geeignet, erhebliche Gesundheitsschäden herbeizuführen.

Der Angriff des G 2 war auch gegenwärtig, da er ein weiteres Mal zum Anrauchen ansetzte.

  1. Notwehrhandlung

Es ist vorliegend davon auszugehen, dass andere Abwehrmittel des G 1, wie Beschwichtigungen und mildere körperliche Einwirkungshandlungen, nicht mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit gleich wirksam gewesen wären. Die weitere Hinnahme eines Anrauchens war G 1 nicht zumutbar, weshalb der Glaswurf letztlich sowohl objektiv erforderlich als auch normativ geboten war.

  1. Subjektives Rechtfertigungselement

G handelte in Kenntnis der Rechtfertigungslage mit Verteidigungswillen und damit mit subjektivem Rechtfertigungselement.

Fazit zur Erforderlichkeit im Rahmen der Notwehrhandlung

Wie so oft steckt der Teufel im Strafrecht im Detail. Die Notwehr ist der klausurträchtigste Rechtfertigungsgrund und muss daher sicher beherrscht werden. Wir hoffen, dass wir Euch mit diesem kleinen Überblick ein wenig helfen konnten.

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Hendrik Heinze

Geschäftsführer, Assessor Akademie Kraatz und Heinze GbR

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